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Vom Schirchsein

Ich stehe im Badezimmer vor unserem großen Spiegel. Meine Güte, was hat Corona nur angerichtet...? Ich wusste ja: „Wo Covid wird, foin Späne“, aber dass nach läppischen zwei Wochen Isolation die Optik derart in die Binsen geht, konnte selbst ich nicht erahnen.

Ich nicke mir kurz zu – um sicherzugehen, dass es sich um keine Verwechslung handelt und das vor mir tatsächlich ich bin. Und *Achtung Überraschung*: Ja, ich bin es wirklich. Leider.

Mein Anblick ist nämlich eher zum Weg- als zum Hinschauen. Seit vierzehn Tagen trage ich ausschließlich von Oma gestrickte Schafwollsocken. Darin reingesteckt schwarze, ausgewaschene Leggins. Seit zwei Wochen die selben. Das mag sich jetzt etwas grauslig lesen, wenn man aber bedenkt, dass ich mich quasi gar nicht bewege, finde ich geht´s. Und der Gummibund ist in nahrungsintensiven Phasen wie gerade einfach ein Geschenk Gottes!

Weiter oben hängt ein schludriges, graues Leiberl unvorteilhaft an mir runter und macht meinen Oberkörper zu einer einzigen Unübersichtlichkeit. Ich ziehe es nach hinten und damit etwas enger, nur zur Bestätigung, dass meine Brüste noch am richtigen Platz bzw. überhaupt noch da sind. Unter uns: Ein BH würde sich in dieser Zeit aus Bequemlichkeitsgründen einfach überhaupt nicht rechnen. Vor allem, weil quasi (sorry P.) eh keiner den Push-Up Effekt schätzt. Meine Lippen glänzen. Mag jetzt sexy klingen, ist aber nicht das Ergebnis eines lasziv inszenierten Lipgloss, sondern einfach nur billiges Riffels Chipsfett als Erinnerung an die letzte Fressflash-Eskalation.

Als wäre das alles noch nicht genug, wuchert an meiner Oberlippe eine Fieberblase – wie immer, wenn ich nicht ganz fit, oder in mir etwas wuselig bin. Meine Haut gleicht einem rot- fleischfarbenen Fleckerlteppich und auf der Stirn komplettieren ein paar Stresswimmerl das optische Trauerspiel.

Die Haare meines Spiegelbildes hängen fad und trocken runter. Ich dreh sie mir zu einem Dutt – ist praktisch und verdeckt den schmierigen und mit weißen Borstenhärchen gespickten Ansatz. Kein Filter dieser Welt könnte grad retten, was die Quarantäne hervorgebracht hat. Nachdem ich mich offensichtlich immer mehr zu einer Mutation Frida Kahlos entwickle, öffne ich das Badkastl und greife als logische Sofortmaßnahme zur Pinzette. Ich suche meine Augenbrauen ab und umfasse eines von hundert überflüssigen Nachwuchshärchen mit beiden Pinzetten-Metallteilen. Dann klemme ich es fest und beginne daran zu ziehen. Die Wurzel verhakt sich im dünnen Oberlid, wie ein zorniger Anker im schlammig-steinigen Seeboden. Ich ziehe die Haut zentimeterweit weg, meine Augen tränen, bis die Sau endlich nachlässt. Der Schmerz fährt mir durch den gesamten Gesichtsfleckerlteppich direkt in den Hinterkopf. AH! OIDA! Ich beobachte das winzige eingeklemmte Härchen, lasse es ins Waschbecken fallen und packe die Pinzette wieder weg. Scheiß drauf! Die Quarantäne dauert eh noch länger. Und den Spiegel kann man abhängen.

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