top of page

Heute schon die Fassung verloren?


Ich finde ja, je älter man wird, desto weniger traut man es sich anständig durchzudrehen. Nämlich ehrlich jetzt: Könnt ihr euch erinnern, wann ihr das letzte Mal so richtig eskaliert seid? Und ich meine nicht das alkoholbeflügelte Rumschwingen auf einer mittelfinsteren in rot-blau-grüne Blinklichter getauchten Tanzfläche, bei dem man ein paar Poplieder lang mit den Hüften wackelt und sich dann halb-dehydriert, halb-peinlich-berührt wieder an seinen sauren Spritzer oder die kohlensäureleere Bierschledern klammert. Und ich meine auch nicht das Affekt-Narrischwerden in einer Streitsituation oder dieses Pseudo-Freispringen nach Youtube-Vorlage. Ich meine dieses richtig, wahrhaftige „sich-die-Seele-aus-dem-Leib-Gröhlen-bis-alles-heraussen-ist“. So wie die Kinder vor der Spar-Kassa. Die explodieren von 0 auf 100, um sich einmal komplett und ohne Rücksicht auf Konsequenzen, Verluste oder Wertungen schwindlig zu bitzeln. Danach schlafen sie meist mit halbnassen Wangen (und einem eingeweichten Brocken Weißbrot in der Hand) in ihrem Kindersitz im Auto ein. Erschöpft aber erleichtert.

Ich hab jetzt schon ein paar Wochen das Gefühl, dass sich etwas in meinem Magen spießt. Etwas, das man behandeln muss. Ich war deshalb bei Ärzten und Osteopathen, habe auf deren Anraten meinen Ärger wohl dosiert thematisiert, Sport gemacht, rigoros meinen Zucker- und Alkoholkonsum eingestellt und mir gefühlt ganze Fässer warmen Kamillentee eingeflößt. Ich habe mir Heilherde, wie zu Jugendzeiten Wodka runtergejagt und mich stundenlang auf meiner blauen Yogamatte rumgewälzt und versucht diesen Hund in mir mit verschiedenen Artgenossen (Katze, Kuh, Hase etc...) wegzuatmen. Ah und ich habe vor dem Schlafengehen (um allerspätestens 22:04) beruhigende Fußbäder (!) genommen. Alles, um dieses ungute beschwerliche Gefühl loszuwerden. Was das gebracht hat? Runzlige Zehen, ein paar Kilos weniger und uuunendliche Langeweile. So viel Langeweile, dass ich am Freitag beschlossen habe, spontan nach Graz (ja genau - meine alltimefavorite City) zu fahren, um meine Freundinnen bei ihrem Kurztrip dort zu besuchen. Wir waren essen und dann was trinken. Und dann noch was und noch was, bis wir irgendwann im „Nachtexpress“ gelandet sind. Jeder der diese komplett verrauchte Untergrundbar kennt weiß, dass dort ein recht höflich aussehender DJ äußerst harte Musikvideos auf einer vergilbten Leinwand abspielt und so all den Metlern und Grunglern den Soundtrack für ihr Feierabendbesäufnis liefert. Man ist dabei, wenn die alten Nostalgie-Hodan von Offspring, Papa Roach oder der einstig grenzgenialen Sandra Nasić und ihren Guano Apes grob aus ihrem 90-erSchlaf gerissen werden. Eine stickige, eher grausige Spelunkn also, die wir vom allersten Takt an geliebt haben. Jedes einzelne aggressiv geschriene Wort und jeder impulsive Schlagzeugdrescher hat mich an etwas erinnert, das ich mir komplett abgewöhnt habe: Richtig Dampf loswerden. Narrisch-Sein - nur der psychischen Entgiftung wegen. Durchdrehen! Beim Heimfahren am nächsten Tag haben wir dann die ganzen alten Playlists rausgespottyfied - Linkin Park (bevor sie Pop-Verräter wurden), System of a Down oder Rise Against. Und dann haben meine Freundin und ich im Auto ge(schrei)sungen. Jede einzelne Textzeile konnten wir noch - wussten exakt, wann diese tiefheiseren Agrostimmen offensiv von der nächsten Instrumentalpassage weggerissen werden. Und wir haben so sehr diesen ganzen Tim-Benzko-ein-Hoch-auf-uns-Philipp-Poisel-Dittberner-oder-wie-sie-nicht-alle-heißen-Dreck verflucht. Und gleich alles andere mit. Dass man sich ab einem gewissen Alter ständig richtig verhalten und sich tausend unausgesprochener Regeln anpassen muss. Und dass man trotz Bemühungen von irgendwelchen Zweifeln bedrängt und einem damit die Leichtigkeit genommen wird. Und dass uns so vieles ankotzt. Die Politik. Die Nachrichten. Die fucking Umweltsünder, die immer wieder damit davon kommen. Und jede einzelne dieser strunzgewöhnlichen ADHS-Gören, die uns (mit dem Vorwand irgendwelche in Bangladesch genähten Fetzten präsentieren zu müssen) auf Social Media zumüllen. Dafür haben wir diese herrlich ehrliche, teilweise mit schwerem Drogenkonsum, unangepassten Einstellungen und formlosem Unperfektionismus einhergehende Musikrichtung in den Olymp gehoben und uns mit jedem Satz noch mehr stark dafür gemacht. Am Ende haben wir drei Stunden Autofahrt lang Lieder mitgeschrien, bis uns heiße Tränen in die Augen stiegen und wir endlich wieder einmal frei und bis ganz unten in den Bauch atmen konnten.

An diesem Tag um 21:55 habe ich mir kein neues Packerl Kamillentee, sondern einen eisgekühlten Cider aufgemacht. Und dann habe ich am Handy "Open Your Eyes" gesucht, mich zurückgelehnt, die Augen zugemacht und dem unguten Gefühl im Magen zum Abschied wohlwollend nickend zuprostet.

コメント


KURZGESCHICHTEN