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Atmen

Ich habe eine blühende Phantasie und neige zu Übertreibungen. Was grundsätzlich schon viel Gutes hervorbrachte, in einer Zeit wie der gerade aber ganz übel sein kann. Die Krise (samt Italien-Worst Case) ist in meinem Kopf quasi schon fertig erzählt und ich fühle mich, als hätte ich einen zu lange gekochten Germknödel - aufgedunsen und pampig – im Magen liegen. „Sag noch etwas, das mich beruhigt“, bitte ich P. jeden Abend bevor wir einschlafen. „Erklär mir nochmal, warum du keine Angst hast“, flehe ich meine beste Freundin an. Unter uns: ich mach die beiden wahnsinnig und verlange ihnen schon fast unmenschliches ab.

Ich muss also eine Runde raus an die frische Luft. Trotz Daheimbleib-Vorsatz ziehe ich mich um, binde mir einen Zopf, schnür die Laufschuhe und drücke mir Kopfhörer in die Ohren. Dröhnende, harte Musik treibt mich. Ich laufe in Richtung See. Viel schneller als sonst – aber nicht schnell genug, um meinen Gedanken zu entkommen. Wir sind doch selbst schuld an diesem Schlamassel. Wir essen Antibiotikafleisch und bilden die irrsten Antikörper. Wir hocken vor unseren Bildschirmen und schauen dem Immunsystem beim Verrecken zu. Wir finden Menschenausbeutung schon schlimm, aber das neueste Gimmick aus China holen wir uns dank dem megaschnellen und superunkomplizierten Onlinehandel trotzdem. Wir alle sind in diesen Überfluss-Wahnsinn reingeraten und haben jetzt Angst vor einer Wirtschaftskrise, die alles noch verrückter macht. Der Klumpen in meinem Magen wird schwerer und ich renne noch schneller - das schlechte Gewissen direkt auf den Fersen. Die vielen Bilder im Kopf. Die hämmernde Musik. Und pochende Schläfen.

Dann sehe ich – mitten am Weg - eine alte Dame seelenruhig auf ihrem Rollator sitzen. Hauptrisikogruppe. Vorerkrankungen. Quasi eine verlockende All inclusive-Einladung für Coronaviren. Ich werde langsamer und nehme die Stöpsel aus den Ohren. Meine Lunge brennt vor Anstrengung, die Zunge klebt trocken am Gaumen. Erschöpfung ist nicht ansteckend. Oder?!?

Ich bleibe – mit Sicherheitsabstand – auf ihrer Höhe stehen.

„Haben Sie eh jemanden, der sich um Sie kümmert?“ frage ich. Ihr faltiges Gesicht wird größer, sie lächelt. „Ja danke. Ich mag die Ruhe und genieße das hier sehr. Das sollten Sie auch“, sagt sie fürsorglich. Ich folge ihrem Blick, der auf dem See liegt. Drei Enten, die auf dem glitzernden Wasser spielen. Sie quaken, ihre von braunen Federn bedeckten Flügel schlagen kleine Wellen. Am Himmel tanzen Vögel. Fast kein Autolärm. Ich spüre, wie ein warmer behutsamer Windhauch vorsichtig mein schweißnasses Gesicht streichelt und schließe langsam meine Augen. Mein Herzschlag wird ruhiger, und endlich auch das Chaos in meinem Kopf und in meinem Bauch. Ich hole Luft. Zum ersten Mal seit Tagen kann ich atmen. Zum ersten Mal habe ich die Hoffnung, dass etwas Gutes passiert. Und zum ersten Mal sehe ich vor mir keine Katastrophe, sondern eine Chance.


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